Strafverteidigertag Rechtspolitik

Die Verteidigung der ersten Stunde kommt !

Zwei EU Richtlinien zwingen den nationalen Gesetzgeber, künftig für eine »Verteidigung der ersten Stunde« zu sorgen. Noch ist allerdings nicht ausgemacht, wie sich dies in der Praxis gestalten könnte. Den Chancen steht die Gefahr einer Absenkung von Verteidigungsstandards gegenüber. Ein Grund mehr, sich frühzeitig in die Ausgestaltung der Regelung einzumischen, meint Lukas Pieplow.

 

Allen Tendenzen eines modernen »get-tough« zum Trotz, allen Entgrenzungen des Strafrechts zuwider: Europa beschert uns die Verteidiger der ersten Stunde.|1

Die EU-Richtlinien 2016/800 »über Verfahrensgarantien für Kinder, die Verdächtige oder beschuldigte Personen in Strafverfahren sind«|2 sowie die Allgemeine Richtlinie 2016/1919 »über Prozesskostenhilfe für Verdächtige und beschuldigte Personen in Strafverfahren sowie für gesuchte Personen in Verfahren zur Vollstreckung eines Europäischen Haftbefehls«,|3 beide 2016 im Amtsblatt verkündet, müssen bis 2019 in nationales Recht umgesetzt werden, nach Geist und Buchstaben; ein Vertragsverletzungsverfahren wegen defizitärer Umsetzung wird aus Kostengründen nicht riskiert werden. Das ist, gemessen an der hektischen Betriebsamkeit der Gesetzgebung, viel Zeit. Und doch, es lohnt, sich dieser Regelungen, obwohl – national gesehen – ungelegte Eier, bereits jetzt anzunehmen. Nicht nur das: Der nationale Gesetzgeber braucht Begleitung zum »Wie« einer Umsetzung, soll die Freude über die möglichen Vorteile nicht in Frust umschlagen.

Gemeinsamer Inhalt beider Richtlinien ist die aus Gründen von Rechtsstaatlichkeit und Verfahrensfairness wünschenswerte Präsenz von Verteidigung bereits im Stadium einer Befragung zur Person des Beschuldigten im Ermittlungsverfahren, also in der ersten Stunde. Die Schwelle für ein Beiordnungserfordernis im Strafverfahren gegen Erwachsene wird sich gegenüber der aktuellen, soweit ersichtlich, nicht ändern; es geht inhaltlich um die Vorverlegung von Verteidigerpräsenz im Verfahren. Art. 4 Abs. 1 der Allgemeinen Prozesskostenhilferichtlinie sieht eine Beiordnungsnotwendigkeit bei unzureichenden eigenen Mitteln des Beschuldigten und zusätzlich unter der Bedingung vor, dass diese im Interesse der Rechtspflege erforderlich ist.|4

Der markante Unterschied der Regelungsinhalte ist die grundsätzliche Verzichtbarkeit auf Verteidigerbeistand im Erwachsenenstrafrecht sowie der in den Verfahren gegen Jugendliche regelmäßig gegebene Fall notwendiger Verteidigung, auch und gerade in der ersten Stunde. Art. 6 Abs. 6 formuliert die Ausnahme von dieser Regel mit dem am Kindeswohl auszulegenden Maßstab einer Unverhältnismäßigkeit »unter Berücksichtigung der Umstände«. Untersuchungshaft und die Anordnung von Freiheitsentzug »als Strafe« sind obligatorische Fälle notwendiger Verteidigung.|5
An dieser Stelle sollen sich weitere Anmerkungen auf die Verfahrensrichtlinie betreffend die Jugendlichen beschränken.|6

1. Verteidigerzugang vor der Befragung durch die Polizei (Staatsanwaltschaft & Justiz)|7

Gemäß RL Art. 6 Abs. 4 b) ist sicherzustellen, dass Jugendliche von einem Verteidiger unterstützt werden, wenn sie befragt werden, sowie dass der Rechtsbeistand an der Befragung teilnehmen kann. Aufmerksamkeit durch die Anwaltschaft verdient der Aspekt von Qualitätssicherung in diesem Zusammenhang. Die obligatorische Verteidigerpräsenz mag in einigen Fällen dazu führen, dass sich die Vernehmungsperson künftig dafür entscheidet, von einer Ad-hoc-Vernehmung ganz abzusehen, die vielleicht ohne das Warten auf den Verteidiger ohnehin kaum mehr »ad hoc« anberaumt werden kann; diese Fälle wird man begrüßen.

Keinen Zweifel kann es jedoch daran geben, dass die Polizei in Eilfällen, z.B. wenn die Vorführung vor den Haftrichter in Erwägung gezogen wird, ein Abwarten und Laufenlassen nicht stattfinden lassen kann. Und hier steckt bei der Umsetzung der Teufel im Detail, nämlich in einem ins Verhältnis zu setzenden Erfordernis einer unmittelbaren Verfügbarkeit eines präsenten Verteidigers der ersten Stunde und dem Aspekt der Qualitätssicherung von Verteidigung eben gerade auch für dieses Verfahrensstadium.|8 Man konnte den Eindruck gewinnen, dass durch jedenfalls einzelne Äußerungen von anwaltlichen Berufsvertretern die Problematik hier auszutarierender Gewichte bislang heruntergespielt worden ist: Der Notarzt an der Unfallstelle sei doch schließlich nicht der Operateur ... Für die Wahrung von Beschuldigtenbelangen dürfte es wenig hilfreich sein, den Verteidiger der ersten Stunde zum »Ersthelfer« zu degradieren. Offensichtlich ist, dass die Entscheidung zur Frage einer Einlassung in diesem Zeitpunkt die Weichen stellt.

Es sieht in der Zusammenschau der beiden Richtlinien derzeit durchaus danach aus, dass der nationale Gesetzgeber eine Option zur Auswechslung des Verteidigers der ersten Stunde normieren wird. Ist es fernliegend, dass der Gebührenrahmen für diesen Beistand in der ersten Stunde dann derart niedrig verankert wird, dass wir – die Polizei will ja mit der Vernehmung loslegen – unter Qualifikationsaspekten eine prekäre Verteidigerpräsenz auf den Fluren der Polizeipräsidien haben werden, von Verteidigerinnen und Verteidigern, die dort für billig Geld den »Fuß in die Tür« bekommen? Ist es eigentlich naheliegend, dass in dieser ersten Stunde schon nichts anbrennen wird und der Beschuldigte dann kurze Zeit später die Option des 'opt-out' zieht und um Einwechslung des erfahrenen Verteidigers bittet? Könnte das Ende vom Lied eine systematische Schwächung von Verteidigung in der über vieles entscheidenden ersten Stunde sein, über die sich ein Teil der Justiz am Ende freut?

Es spricht viel dafür, diese Tücken des neuen Systems jetzt in den Blick zu nehmen. Ein Abwarten dürfte drohende Verwerfungen der im Ansatz natürlich erfreulichen Vorverlagerung von Verteidigerpräsenz eher befördern als einfangen. Die Anwaltschaft sollte flächendeckend und ohne auf den Gesetzgeber zu warten, Strukturen schaffen, die eine schnelle Abrufbarkeit von qualifizierter Verteidigung verbessert.

Soweit es um Jugendliche geht, sollte die Anwaltschaft flächendeckend Pflichtverteidigerlisten mit Anwältinnen und Anwälten vorhalten, die durch Absolvierung von Aus- und jährlich nachzuweisenden Weiterbildungsmodulen für eine Verteidigerpräsenz der ersten Stunde zur Verfügung stehen. Die dort den Verfahrensbeteiligten online verfügbaren Mobilfunknummern sollten durch einen Rufbereitschaftsnotdienst aus diesem Pool, dieser ebenfalls mit Online-Präsenz, ergänzt werden, was im Ansatz ja auch keine Neuigkeit darstellt.

2. Wer bestellt den Verteidiger der ersten Stunde?

An dieser Stelle sind Lösungen, die mit dem derzeitigen Organisations- und Ressortierungsgrad der Justiz harmonieren könnten, nicht in Sicht. Es ist, und die Anwaltschaft sollte sich dazu im jetzt angelaufenen Beratungsprozess zum »Wie« der Richtlinienumsetzung verhalten, nicht ausgeschlossen, dass der Gesetzgeber für die Nacht- und sonstigen Unzeitfälle an eine Eilzuständigkeit des Bereitschaftsstaatsanwalts denkt. Ein unausweichliches Ergebnis des Drucks, die Sofortpräsenz von Verteidigung zu organisieren? Die Anwaltschaft sollte Einfluss nehmen, dies durch korrespondierende richterliche Präsenzen für die Entscheidung der Beiordnungsfragen nicht in Abläufe einmünden zu lassen, in denen die Ermittler selbst die ihnen genehmen Verteidiger selektieren.

3. Grenzziehungen für Fälle notwendiger Verteidigung und »unverhältnismäßige« Fälle

Eine systematische Sicht auf die RL 2016/800, insbesondere auch die Lektüre der Erwägungsgründe, hebt zu vollziehende Haft und drohenden Freiheitsentzug als einen Aspekt für die Bejahung einer Beiordnungsnotwendigkeit bereits in der ersten Stunde hervor. Die Anwaltschaft sollte jedenfalls unter dem zusätzlich zu gewichtenden Aspekt des Kindeswohls und unter Erweiterung der jetzigen »Margen« die Bejahung notwendiger Verteidigung gem. §§ 39, 40 JGG einfordern, wenn die Zuständigkeit des Jugendschöffengerichts begründet sein könnte. Aufmerksam sollten im Umsetzungsprozess die Ausnahmetatbestände der Richtlinie nach Art. 6 Absatz 8 im Sinne eines sofortigen Handlungserfordernisses der Ermittlungsbehörden als Anknüpfungspunkt für einen Dispens von Verteidigungserfordernissen im Auge behalten werden. Ist der insoweit in der Sache offenbar im Raum stehende »Fall Metzler« unter unseren nationalen Prozessmaximen geeignet, eine Ausnahme von der Regel zu normieren? Das Regressionsverbot im Sinne der mit der Richtlinie nicht zu unterlaufenden bereits erreichten nationalen rechtsstaatlichen Standards dürfte hier keinen Raum für restriktive Neuregelungen geben.

4. Fortbildungsförderung

Unter dem Begriff »Schulung« nimmt die RL 2016/800 die Mitgliedstaaten mit Art. 20 in die Pflicht, neben dem Justizpersonal »unter gebührender Achtung der Unabhängigkeit der Rechtsberufe« Maßnahmen zur Förderung von Weiterbildungsmaßnahmen zu ergreifen.

Die Anwaltschaft sollte mit der Konzeptionierung von jugendstrafrechtlichen Aus- und Weiterbildungsmodulen einen Aufschlag machen, eine Förderung solcher qualitätssichernden Anstrengungen aus Bundesmitteln in Anspruch nehmen zu können.

5. Ausblick

Nachjustierungen zu Verteidigerpräsenzen, egal welche Prognose man zu den realen Effekten hat, sollten uns das Jugendstrafrecht betreffend eins nicht aus den Augen verlieren lassen: Derzeit ist rechtspolitisch das Heranwachsendenstrafrecht in Gefahr. Wenn dies unter Mitwirkung der Anwaltschaft nicht verteidigt werden kann und damit die zahlenmäßig größte und »rechtsfolgenintensivere« Altersgruppe im derzeitigen Anwendungsbereich von Jugendstrafrecht verloren geht, müssen wir uns beim Feinschliff von Verfahrensrechten der verbleibenden Jugendlichen vielleicht nicht verausgaben.

Lukas Pieplow ist Rechtsanwalt und Fachanwalt für Strafrecht in Köln

Anmerkungen:

1 : Im Folgenden wird ohne weitere Erwähnung an Verteidigerinnen und Verteidiger gedacht
2 : http://db.eurocrim.org/db/de/doc/2502.pdf. »Kinder« nach EU-Terminologie sind in diesem Zusammenhang »Jugendliche« im Sinne des JGG
3 : http://db.eurocrim.org/db/de/doc/2610.pdf
4 : Dass die Richtlinie nicht von Pflichtverteidigung und Fällen notwendiger Verteidigung spricht, sondern von Prozesskostenhilfe, ist in diesem Zusammenhang unschädlich. Das generell geltende sog. Regressionsverbot im Verfahren der Richtlinienumsetzung besagt zusätzlich, dass bereits erreichte Standards des nationalen Rechts über die Richtlinie nicht abgesenkt werden können, weil diese lediglich den Minimum-Standard definiert, so ausdrücklich RL 2016/1919, Art. 11 und RL 2016/800, Art. 23
5 : Dass man unter Kostenaspekten mit dieser Klausel, bezugnehmend auf die aus braunen Zeiten stammende Bestimmung von § 13 Abs. 3 JGG, die Verhängung von Jugendarrest aus den Fällen notwendiger Verteidigung heraushalten möchte, sollte zurückgewiesen werden. Die Festnahme und die Verhängung von Jugendarrest sind Freiheitsentzug und - nicht zuletzt nach dem Geist der Erwägungsgründe der Richtlinie - Fälle der notwendigen Verteidigungen.
6 : Gerade weil hierauf nicht näher eingegangen werden kann, sei auf die in der Richtlinie 2016/800 neuen Bestimmungen zur audiovisuellen Vernehmungsdokumentation von Beschuldigtenvernehmungen gem. Art. 9 wenigstens hingewiesen; eine nach Auffassung des Verf. auch unter der Fragestellung von Eingriffs- und Belastungswirkungen und mit Hinblick auf Fragen des rechtsstaatlichen Gewinns (in Abhängigkeit auch des Organisationsaufwandes für eine solche technische Dokumentation) nicht so ohne weiteres zu feiernden Bestimmung
7 : Art. 6 Abs. 3 a). Alle nachfolgend zitierten Artikel beziehen sich auf die RL 2016/800
8 : Aufschlussreich dazu schon Heydenreich, Die unverzügliche Beiordnung – Fluch oder Segen?, StraFo 7/2011, 263, 268

Lukas Pieplow: Die Verteidigung der ersten Stunde kommt !, in: Freispruch, Heft 10, März 2017

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